Montag, 7. September 2020

7. Sept. 2020

 Heute möchte ich mit Ihnen etwas ganz persönliches teilen.

Im hinteren Bereich meines Ateliers sind meine Materialien aufbewahrt, die ich für meine Arbeit brauche. Zwei Kästen stehen dort, vollgefüllt mit verschiedenen Stoffen, eine Stellage mit Stoffen, Wolle, Garn und vielen anderen für mich wertvollen Dingen. Eine Stellage, worauf sich große Wollvliesballen in vielen Farben stapeln. Es ist meine Schatzkammer. In dieser Schatzkammer, die ich sehr oft am Tag betrete, um passendes Material für die jeweilige Arbeit zu suchen und auch zu finden, hängt ein Schwarzweißfoto, das 61 Jahre alt ist. Auf dem Foto bin ich mit 9 Jahren. Jedes Mal, wenn ich daran vorbei komme, begegnen wir uns. Manchmal ist es nur ein flüchtiger Blick, manchmal stehe ich länger davor und schaue dem kleinen Mädchen in die Augen. Ich begegne mir selbst. Dabei habe ich oft das Bedürfnis, diesem kleinen Wesen zart über den Kopf mit den dunkelbraunen Zöpfen zu streichen oder liebevoll seine Wangen zu berühren.

Es schaut ein wenig anders aus, als die kleinen Mädchen von heute, die in unseren Breiten meist einen selbstbewussteren Ausdruck haben und eine coole Kleidung tragen. Dieses Mädchen vor mir schaut nicht cool aus. Es trägt ein blaues Wollkleid. eine blaue Latzschürze mit kleinen weißen Blümchen. Damals war es üblich, so eine Schürze zu tragen, um die Schulkleidung zu schonen. Außerdem eine hellgraue, mit der Maschine gestrickte Weste mit einem dünnen roten Rand. Das war etwas besonderes,  sonst gab es nur selbstgestrickte Westen, die meine Mutti für die ganze Familie gemacht hat. Diese Kleidung bekam ich von jemanden geschenkt, dem sie nicht mehr gepasst hat. Dieses Foto ist zwar nicht farbig, ich kann mich aber ganz genau erinnern. Außerdem hat das Mädchen auf dem Bild zwei lange, dunkelbraune Zöpfe, deren Enden meine Mutti wie eine Schlaufe unter jedem Ohr mit einer großen, weißen Stoffmasche festgebunden hat. Jeden Morgen, bevor ich in die Schule ging, holte Mutti das Bügeleisen hervor, und bügelte sorgfältig die breiten, weißen Stoffbänder.

So sauber hergerichtet, schaut mich mein Gegenüber an der Wand  an. Ich kann sehen, dass es scheu ist. ein wenig Angst schaut aus seinen dunkelbraunen Augen. Angst vor den Menschen und dem Ungewissen, das auf ihn im Leben wartet. Es spürt, dass  Mutti auch so eine Angst in sich trägt. Trotzdem geht es jeden Tag mutig weiter. Oft mit Herzklopfen und weichen Knien, aber mutig. Ich sehe, dass es sehr gerne lebt und gerne alles richtig machen möchte und auch folgsam ist. Es glaubt den Erwachsen, dass sie alles wissen.

Dieses Mädchen kann auch lachen. Sosehr, dass es meint, es kann vor Freude gar nicht mehr aufhören. Zum Beispiel, als der kleine Bruder geboren wurde oder wenn Vati, der die ganze Woche auswärts gearbeitet hat, nach Hause gekommen ist. Dann ist es ihm entgegen gelaufen, an ihm hochgesprungen, ihn fest gehalten, so stürmisch, dass ihm meistens der Hut, den er immer getragen hat, auf die Wiese gekollert ist. Einmal sogar in das kleine Bächlein neben dem Weg. Manchmal auch seine Brille. 

Oder wenn die geliebte Oma, das selten vorkam, für das Wochenende zu uns kam. Da hat die kleine Resi ganz ungeduldig beim Bus auf sie gewartet und sie voll Freude empfangen. Diesmal nicht stürmisch. Das hätte der kleinen, zarten Oma, die nicht gut auf den Beinen war, nicht gut getan. Glücklich haben wir uns an der Hand gehalten und die Neuigkeiten sprudelten nur so heraus und alles wollte am besten gleichzeitig erzählt und gezeigt werden.

Ich mag meine kleine Gefährtin, die mich mit so aufrichtigen Augen anschaut. Heute kann ich sagen, ich liebe sie .Wir nehmen uns an der Hand und gehen gemeinsam durch das Leben. Ich und ich. Heute kann ich dem kleinen Mädchen sagen: du braucht keine Angst mehr haben. Ich bin jetzt erwachsen. Ich bin bei dir!

Vielleicht haben auch Sie ein Bild aus der Kindheit, dass Sie einmal genauer betrachten. 


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